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Der Zeuge
Vor mir in der Kurve hinter Selchow nicht weit weg vom Flughafen Schönefeld rauscht am frühem Vormittag ein Golf von der Straße. Das Fahrzeug hat mich wenige Minuten vorher in Mahlow hektisch überholt. Als würde die Straße nie abbiegen, rumpelt das Fahrzeug mit eigentlich wenig Schwung kerzengerade auf ein erst kürzlich abgeerntetes Getreidefeld und kommt nach zirka 15 Metern zum Stehen. Ich bremse, fahre vorsichtig in die Kurve
rein, es könnte ja eine Ölspur diese rasante Kurvenfahrvariante
verursacht haben.
Kurz bevor ich das Fahrzeug erreiche, steigt
eine attraktive Frau um die Dreißig aus, zeigt mit dem Zeigefinger
der rechten Hand auf mich und ruft lauter als ich hören will: "Sie
sind mein Zeuge bei diesem Unfall!"
Die Frau fängt plötzlich an,
ein wenig zu zittern und setzt sich erschöpft auf die Rahmenkante
der Fahrertür.
Ich werde umgänglich freundlicher
und meine, daß alles doch nicht schlimm ist. Sie wäre aus der
Kurve aus welchen Gründen auch immer raus geflogen und auf einem glatten
Acker gelandet.
"Nein" erwidert sie, rupft eine kleine blaue Handtasche aus der Fahrertür und entnimmt dieser eine hellgrüne Pillenschachtel. Sie drückt zwei Pillen durch die Alufolie und wirft sie sich in den Mund. Ich sehe deutlich die Aufschrift auf der
Packung: "FAUSTAN".
"Sie haben doch gesehen, wie ich von der Straße abgekommen bin - jetzt eben!" Wiederholt sie. Nun wird es mir doch zu bunt und ich erwähne, daß sie gerade "Faustan" geschluckt hat - das könnt ich bezeugen und wie ich weiß, ist das ein Beruhigungsmittel, ein Psychopharmakon. Ich sage der Frau, daß ich annehme, sie hätte von den Tabletten vorher schon welche eingenommen. "Wahrscheinlich sind sie bis zur Halskrause mit Tabletten voll und deswegen aus der Kurve hinausgefahren. Wollen sie immer noch ernsthaft, daß ich ihr Zeuge bei einer Sache werde, die Sie in üble Schwierigkeiten bringen kann?" Doch die tippt wie im Trance auf ihrem blauschillernden Handy die Nummer 110. Ich gehe zu meinem Auto und warte drei Zigaretten lang bis die Polizei kommt. Inzwischen hält noch ein weiteres Auto an. Ein Mann steigt aus und spricht mit der Frau. Endlich kommt die Polizei. Nachdem die Polizisten mit der Frau und dem Fahrer des zweiten Wagens gesprochen haben, treten sie zu mir und legen mir Handschellen an. Drei Stunden später sitz ich vor dem Haftrichter. Einen Tag später sitz ich in Untersuchungshaft. Drei Monate später hab ich meinen Gerichtstermin. Der Anklage des Staatsanwaltes auf versuchten Totschlag wird stattgegeben und ich werde zu drei Jahren ohne Bewährung verurteilt. Der Zeuge, der nach mir gekommen ist, hat eidesstattlich bestätigt, daß ich die Frau von der Straße gegen einen Baum abdrängen wollte. Das medizinische Gutachten ergab, daß die Frau keinen Alkohol, keinerlei Pharmaka, sondern nur Pfefferminztabletten und Eisenacher Oblaten vorher zu sich genommen hat. Weiter nichts. Ich sitze hier im Knast und schreibe zum ixsten Male diese Zeilen für alle, die das eventuell lesen wollen. Auf dem Getreidefeld hinter Selchow, das möglicherweise jetzt ein Rübenfeld ist, gammelt irgendwo eine leere Arzneimittelpackung herum und wird inzwischen sicher mehrfach untergeflügt worden sein. Mein Indiz, mein Zeuge: eine leere Schachtel mit der Aufschrift "Faustan". Ich habe nun zwei Jahre mit Schnalle meine Zelle geteilt. Schnalle hat noch zehn Jahre vor sich und war Terminverschieber. Morgen komme ich wegen guter Führung vorzeitig raus und fahre zu einem Kumpel von Schnalle in den Norden, nach Hamburg. Der Kumpel von Schnalle ist auch Terminverschieber. Der arbeitet ohne Pillen und ohne Zeugen mit einer Siebenfünfundsechziger Walther mit Schalldämpfer. Ich habe für den Kumpel von Schnalle
zwei Aufträge:
© Richard Hebstreit,
26.01.2001
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. | richard
hebstreit
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