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Der Zeuge 

Vor mir in der Kurve hinter Selchow nicht weit weg vom Flughafen Schönefeld rauscht am frühem Vormittag ein Golf von der Straße. Das Fahrzeug hat mich wenige Minuten vorher in Mahlow hektisch überholt. Als würde die Straße nie abbiegen, rumpelt das Fahrzeug mit eigentlich wenig Schwung kerzengerade auf ein erst kürzlich abgeerntetes Getreidefeld und kommt nach zirka 15 Metern zum Stehen. 

Ich bremse, fahre vorsichtig in die Kurve rein, es könnte ja eine Ölspur diese rasante Kurvenfahrvariante verursacht haben. 
Doch nix, kein Öl, keine Schmiere. Ich halte vorsichtig auf dem schmalen Standstreifen an.
Ich steige aus und laufe zu dem Fahrzeug, um eventuell zu helfen. Vielleicht auch, um ein Ereignis zu erleben, das bereits meine Neugierde erweckt hat an diesem frühen Vormittag. 

Kurz bevor ich das Fahrzeug erreiche, steigt eine attraktive Frau um die Dreißig aus, zeigt mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf mich und ruft lauter als ich hören will: "Sie sind mein Zeuge bei diesem Unfall!" 
"Was für ein Unfall?" sag ich ruhig. "Es ist doch nichts passiert! Sie sind auf den Acker gefahren und wie es aussieht, ist weder Ihnen noch Ihrem Wagen das Geringste passiert. Sogar dieser Acker ist noch gänzlich heil" füge ich mit etwas überheblich belustigender Stimme hinzu. "Sie können sich ins Auto setzen und weiter fahren!" 

Die Frau fängt plötzlich an, ein wenig zu zittern und setzt sich erschöpft auf die Rahmenkante der Fahrertür. 
"Das war ein Unfall" sagt sie mit hoher, schriller Stimme. "Ein Unfall! Ein Unfall und sie sind mein Zeuge!" 

Ich werde umgänglich freundlicher und meine, daß alles doch nicht schlimm ist. Sie wäre aus der Kurve aus welchen Gründen auch immer raus geflogen und auf einem glatten Acker gelandet. 
"Setzen Sie sich jetzt in Ihr Auto und fahren Sie einfach weiter! Ich muß auch gleich weiter, ich habe einen wichtigen Termin - für einen Vertragsabschluß - es geht um viel Geld - um sehr, sehr viel Geld!" 

"Nein" erwidert sie, rupft eine kleine blaue Handtasche aus der Fahrertür und entnimmt dieser eine hellgrüne Pillenschachtel. Sie drückt zwei Pillen durch die Alufolie und wirft sie sich in den Mund. 

Ich sehe deutlich die Aufschrift auf der Packung: "FAUSTAN".
"Sie werden jetzt nicht weiterfahren!", krakeelt sie bestimmend. "Sie sind mein Zeuge bei diesem Unfall und warten, bis die Polizei kommt", sie nestelt in der Tasche nach einem Handy. " Sie bleiben so lange da, bis alles geklärt ist!" postuliert sie ungeduldig ärgerlich. 
"Das ist doch totaler Unsinn", entgegne ich. "Liebe Frau, das war kein Unfall, das war ein Zufall!" 

"Sie haben doch gesehen, wie ich von der Straße abgekommen bin - jetzt eben!" Wiederholt sie. 

Nun wird es mir doch zu bunt und ich erwähne, daß sie gerade "Faustan" geschluckt hat - das könnt ich bezeugen und wie ich weiß, ist das ein Beruhigungsmittel, ein Psychopharmakon. Ich sage der Frau, daß ich annehme, sie hätte von den Tabletten vorher schon welche eingenommen. "Wahrscheinlich sind sie bis zur Halskrause mit Tabletten voll und deswegen aus der Kurve hinausgefahren. Wollen sie immer noch ernsthaft, daß ich ihr Zeuge bei einer Sache werde, die Sie in üble Schwierigkeiten bringen kann?" 

Doch die tippt wie im Trance auf ihrem blauschillernden Handy die Nummer 110. Ich gehe zu meinem Auto und warte drei Zigaretten lang bis die Polizei kommt. Inzwischen hält noch ein weiteres Auto an. Ein Mann steigt aus und spricht mit der Frau. 

Endlich kommt die Polizei. Nachdem die Polizisten mit der Frau und dem Fahrer des zweiten Wagens gesprochen haben, treten sie zu mir und legen mir Handschellen an. Drei Stunden später sitz ich vor dem Haftrichter. Einen Tag später sitz ich in Untersuchungshaft. Drei Monate später hab ich meinen Gerichtstermin. Der Anklage des Staatsanwaltes auf versuchten Totschlag wird stattgegeben und ich werde zu drei Jahren ohne Bewährung verurteilt. Der Zeuge, der nach mir gekommen ist, hat eidesstattlich bestätigt, daß ich die Frau von der Straße gegen einen Baum abdrängen wollte. Das medizinische Gutachten ergab, daß die Frau keinen Alkohol, keinerlei Pharmaka, sondern nur Pfefferminztabletten und Eisenacher Oblaten vorher zu sich genommen hat. Weiter nichts. 

Ich sitze hier im Knast und schreibe zum ixsten Male diese Zeilen für alle, die das eventuell lesen wollen. Auf dem Getreidefeld hinter Selchow, das möglicherweise jetzt ein Rübenfeld ist, gammelt irgendwo eine leere Arzneimittelpackung herum und wird inzwischen sicher mehrfach untergeflügt worden sein. 

Mein Indiz, mein Zeuge: eine leere Schachtel mit der Aufschrift "Faustan". 

Ich habe nun zwei Jahre mit Schnalle meine Zelle geteilt. Schnalle hat noch zehn Jahre vor sich und war Terminverschieber. Morgen komme ich wegen guter Führung vorzeitig raus und fahre zu einem Kumpel von Schnalle in den Norden, nach Hamburg. Der Kumpel von Schnalle ist auch Terminverschieber. Der arbeitet ohne Pillen und ohne Zeugen mit einer Siebenfünfundsechziger Walther mit Schalldämpfer. 

Ich habe für den Kumpel von Schnalle zwei Aufträge: 
Zwei Beerdigungstermine um viele, viele Jahre nach vorn zu verschieben. 

© Richard Hebstreit, 26.01.2001
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